Tausendschönchen - Kein Märchen

      Tausendschönchen - Kein Märchen






      Tausendschönchen - Kein Märchen
      (Sedmikrasky)
      mit Ivana Karbanova, Jitka Cerhova, Marie Ceskova, Jirina Myskova, Marcela Brezinova, Julius Albert, Oldrich Hora, Jan Klusak, Josef Konicek, Jaromir Vornacka, Vaclav Chochola
      Regie: Vera Chytilova
      Drehbuch: Vera Chytilova
      Kamera: Jaroslav Kucera
      Musik: Jiri Slitr / Jiri Sust
      FSK 16
      Tschechoslowakei / 1966

      Am Anfang waren zwei Mädchen: Marie 1 und Marie 2 hocken in einem Schwimmbad. Wenn sie ihre Arme und Beine bewegen, quietscht es als öffne der Prinz die seit 100 Jahren verschlossene Tür zum Zimmer Dornröschens. Beide sind sich einig: Die Welt ist verdorben. Also beschließen sie, ab jetzt eben auch verdorben zu sein. Gesagt, getan und wie es sich für zwei verdorbene und quietschende Mädchen gehört, ohrfeigen sie sich aus dem Schwimmbad erstmal direkt ins Paradies. Von da an tun sie, was ihnen gefällt: Es wird geschlemmt und sich daneben benommen bis am Ende nicht mal mehr der Film selbst vor ihnen sicher ist.


      Zum wiederholten Male ist es ein Film aus der ehemaligen Tschechoslowakei, der in das Programm des Labels Bildstörung aufgenommen wurde. Im Prinzip ist das ein untrügliches Zeichen dafür das es sich um ein sehr außergewöhnliches Werk handeln muss, doch "Tausendschönchen" setzt dem Ganzen noch einmal die absolute Krone auf. Dabei sollte man sich von der ersten Minute an darauf einstellen das hier nicht eine ansonsten übliche Erzählstruktur vorliegt, denn die Geschichte lässt eigentlich zu keiner Zeit einen roten Leitfaden erkennen, der sich durch die Ereignisse zieht. Vielmehr offenbart sich ein recht wilder Mix aus aneinandergereihten Szenen, die phasenweise sogar einen ziemlich wirren Eindruck hinterlassen. Doch gerade darin liegt der ganz besondere Reiz dieses Filmes der die anarchistischen Handlungen seiner beiden Hauptdarstellerinnen eben durch diesen Drehstil besonders gut in den Vordergrund rückt. Was sich durch die Inhaltsangabe eventuell als Drama ankündigt, entpuppt sich schon nach wenigen Minuten viel eher als bissige Satire, die mit einem enorm hohen Anteil Gesellschaftskrutik angereichert wurde. Schon der Vorspann des Filmes hat es in sich und präsentiert dem Zuschauer Bilder der Zerstörung, denn etliche Bombeneinschläge und generelle Zerstörung durch Waffengewalt hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

      Und so geht es dann auch fröhlich weiter, denn die beiden Hauptfiguren Marie 1 und Marie 2 lassen es sich während ihres anarchistischen Treibens auch nicht nehmen, ihre Umwelt auf eine andere Art und Weise zu zerstören. Dies geschieht jedoch mit einer ordentlichen Portion Humor, der zumeist äußerst bissig daher kommt, an etlichen Stellen aber auch geradezu Slapstick-artige parat hält, die den Betrachter an die gute alte Stummfilm-Zeit erinnern. Untermalt wird das alles von einem immer absolut passenden Score, der nahezu perfekt auf die jeweiligen Szenen abgestimmt ist. Durch die im Prinzip vollkommen fehlende Struktur in der Erzählweise entsteht größtenteils der Eindruck, das man es mit wild aneinandergereihten Video-Clips zu tun hat, die eine extrem berauschende Wirkung ausstrahlen. Dabei wird man fast ganzzeitig in einen sogartigen Strudel hineingerissen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ob man es nun will oder nicht, man kann sich der Faszination des Geschehens auf keinen Fall entziehen, was ganz sicher auch an der erstklassigen Kamera-Arbeit und dem genialen Farbenspiel liegt, das einen förmlich in eine Art magischen Bann zieht.

      Die teils wilden Kamera-Fahrten und ganz besonders das ständig wechselnde Farbenspiel hinterlassen ein Gefühl, als wenn man sich selbst auf einem äußerst wilden Drogen-Trip befinden würde. Es ist einfach grandios mitanzusehen, wie innerhalb einer Szene zwischen schwarz-weiß und kräftigen Farbeinstellungen hin-und hergewechselt wird, so das es manchmal schon fast in den Augen schmerzen kann. Es ist schon ein wahres Feuerwerk an visuellen Tricks das hier auf einen einwirkt und die wilde Aneinanderreihung der einzelnen Szenen tut ihr Übriges, um beim Betrachter eine sehr nachhaltige Wirkung zu hinterlassen. "Tausendschönchen" ist sicherlich ein Film, der nicht unbedingt die breite masse anspricht, der Drehstil des Geschehens dürfte dabei bei vielen Leuten eher auf Ablehnung stoßen. Für die Freunde außergewöhnlicher Filmkunst dürfte sich jedoch eine Geschichte offenbaren, die absolut frech, bissig und insbesondere anarchistisch daherkommt. Gerade der letzte Punkt trieft schon fast aus jeder einzelnen Einstellung und wird durch das großartige Schauspiel der beiden Hauptdarstellerinnen noch einmal gesondert in den Focus gerückt.

      Letztendlich handelt es sich einmal mehr um eine Veröffentlichung von Bildstörung, die wohl hauptsächlich einer eher kleinen Zielgruppe zugänglich ist. Das breite Mainstream-Publikum wird wohl kaum etwas mit diesem experimentellem Film anfangen können, der die Verdorbenheit der Welt auf eine teils ineinander verschachtelte Art zum Ausdruck bringt, die man manchmal erst auf den zweiten Blick erkennt. Unter den bisher bei Bildstörung erschienenen Film-Perlen nimmt "Tausendschönchen" noch einmal einen ganz besonderen Stellenwert ein, ist die Geschichte doch extrem gerade für die damalige Zeit extrem provokant und bringt dies auch in jeder Szene äußerst gut zum Ausdruck. Es handelt sich um ein filmisches Kleinod, das unverständlicherweise schon fast in Vergessenheit geraten ist, aber nun in einer würdigen Veröffentlichung endlich auch in Deutschland erhältlich ist. Über die Qualität braucht man keine großen Worte verlieren, denn einmal mehr handelt es sich um ein DVD-Release das keine Wünsche offen lässt und auch wieder mit etlichen Extras ausgestattet ist, so wie man es von dem Independent-Label gewöhnt ist.


      Fazit:


      Wenn man auf den außergewöhnlichen Film fixiert ist, dann dürfte Bildstörung wirklich die erste Adresse in Deutschland sein. Es ist immer wieder erstaunlich, welche wahren Film-Perlen ans Tageslicht kommen und in einer qualitativ hochwertigen Veröffentlichung erscheinen. Vorliegendes Werk macht da keine Ausnahme, denn dieses filmische Kleinod reiht sich nahtlos in die Reihe der erstklassigen Drop Outs ein und bietet einen Film-Genuss der ganz besonderen Art.


      Die DVD:

      Vertrieb: Bildstörung
      Sprache / Ton: Deutsch / Tschechisch DD 2.0 Mono
      Untertitel: Deutsch
      Bild: 1,33:1 (anamorph 16:9)
      Laufzeit. 73 Minuten
      Extras: Streng limitiert: Mit exklusiver Soundtrack-CD, Audiokommentar von Daniel Bird und Peter Hames, Dokumentation über die Enststehung des Films (ca. 30 Min.), Booklet


      9/10